Eine Zugreise der ganz besonderen Art

Ich habe in drei Tagen sehr viel in Bethlehem und Jerusalem gesehen und erlebt und dieses letzte Ereignis war trotzdem das interessanteste, weil es keine Dinge oder Sachen waren, sondern Menschen, wenn auch aus einem anderen Stern.
Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Zug. Ein üblicher, alltäglicher Vorgang. Nichts besonderes werden sie sagen. Und das ist auch richtig so. Es sei denn, Sie fahren in einem israelischen Zug. Dann können Sie folgendes Bild sehen:
Vor Ihnen sitzt ein junger Mann. Geschätzt etwa Mitte zwanzig. Eher schwarzer Tand mit den Israelischen Zöpfen und den schwarzen Hut, die ihn wohl für alle sofort sichtbar als streng Gläubigen ausweisen sollen. Ihr wisst ja, ich persönlich glaube an die Kaffeemaschine und kann mit diesen sichtbaren Unterwerfungssignalen nichts anfangen. Sie sind nichts anderes als eine Art Uniform, die jedem sofort den Stempel des “Ich bin so” aufdrücken soll.
Wie auch immer. Da sitzt also dieser Junge Mann mit den Zöpfen und breitet seine heilige Schriften auf den Tisch vor sich aus. So wie er diese bedruckte Papierblätter behandelt, muss ich einfach davon auszugehen, dass sie heilig sind; Mindestens. Die Ehrfurcht und die Art und Weise wie der junge Mann mit den Blättern umgeht ist mindestens erstaunlich. Zumindest für jemanden wie mich, der im Westen Europas groß geworden und sozialisiert worden in. Wir haben seit Sokrates Zeiten gelernt, dass es nicht das Papier selbst ist, sondern die Idee, die sich hinter diesem Papier versteckt.
Wie auch immer. Der Junge Mann blättert ehrfurchtsvoll in seinen Papieren während er mit leiser Stimme liest und den Oberkörper auf und ab bewegt. Ich verstehe seine Worte nicht, aber ich kann den leise gesprochenen Singsang hören. Es ist wie das Murmeln einer Muter in das Ohr eines Neugeborenen oder das Flüstern eines Liebhabers in das Ohr seiner geliebten.
Szenenwechsel. Das selbe Bild jetzt mit etwas anderen Worten. Sie sitzen in Zug. Ihnen gegenüber ein Junger Mann, der einige bedruckte Seiten in den Händen hält, als würden sie ihn beißen, wenn er seine Achtung auch nur für einen Moment, einen kleinen Augenblick nur ein kleines bisschen abwendet. Er behandelt diese Blätter so, als ob sie eine Giftschlange wären, die in tödlich beißen, wenn er nicht hundert Prozent konzentriert leise murmelnd und den Oberkörper auf und ab wiegen, vor sich hin bettet. Ich weiß nicht, ob die Angst von strafenden Gott, der alles sieht und weiß, oder der innere Wille, durch diese Ritual Teil des göttlichen zu werden. Das ist die absolute Konzentration. Der junge Mann ist offensichtlich in Trance.
Nein, Moment, doch nicht. Etwas scheint ihn zu stören. Vielleicht spürt er meine Blicke auf ihn. Ich weiß es nicht. Jetzt scheint er seine Vorgehensweise grundlegend zu ändern.
Aus einer Tasche holt er ein weiß-blaues Tusch, das er sich um die Schultern legt. Das Tuch ist größer als ein Schal. Es hat etwa die Größe von Tüchern, die sich alte Frauen in kalten Herbstabenden um die Schultern legen, wenn sie keinen Mantel anziehen wollen. Ich bin fasziniert, erstaunt und kann meine Aufmerksamkeit um keinen Moment abwenden, als würde ich gerade dann den entscheidenden Moment verpassen, den Moment etwa wenn er sich in die Lüfte erhebt, oder die Farbe in hell leuchtendes Gelb wechselt, oder ähnliches.
Mir kommt der Gedanke, dass ich diesen Vorgang fotografieren oder gar auf Video aufnehmen könnte. Das glaubt mit keiner, denke ich. Und dann lasse ich es, weil ich den Eindruck habe, ich würde ein Sakrileg begehen.
Durch die Handlung dieses jungen Mannes, hat sich der Deutsche Zug, der mit lautem Getöse durch Israel fährt, in einer Kirche, oder Moschee oder in einer sonstigen Heiligen Stätte verwandelt. Fasziniert betrachte ich wie der junge Mann, jetzt mit dem weiß-blauen Tuch um die schultern ehrfurchtsvoll, weiter seine Blätter vor sich murmelnd liest, während er seinen Oberkörper auf und ab bewegt. Ich erwarte jeden Moment diese eine ganz bestimmte Erfüllung. Es muss doch etwas passieren. Warum macht er das bloß? Es muss doch etwas mit Magie oder ähnliches zu tun haben. Es sieht aber so anstrengend aus. Bei Harry Poter war es viel einfacher.
Was hatte ich gestern in der Geburtskirche in Bethlehem gelesen? “Verdum caro factum est.” – “Und das Wort ist Fleisch geworden”. Umgekehrt muss es doch auch gehen. Dass aus dem Fleisch Wort wird; Eine Vergeistigung. Dieses Ritual und um nichts anderes handelt es sich, ist einfach faszinierend. Ich habe in Jerusalem öfter einzelne oder Gruppen von Juden gesehen, die durch ihr Gebet den Verkehr behinderten, aber diese absolute Hingabe ist einzigartig.
Ja wohl, ich erwarte wirklich, dass der junge Mann in einer Wolke davon schwebt oder ähnliches. Ich bin einfach von dieser auf-und-ab-schwankenden-und-murmelnden Hingabe absolut fasziniert.
Und dann kommt doch noch eine Steigerung. Aus seiner Tasche (Aus Leder, handgemacht, mit goldenen Intarsien, die wie jüdische Letter aussehen, bestickt. Ich kann es nicht lesen, muss aber etwas sehr ganz wichtiges sein) holt er jetzt einen schwarzen Würfel. Dieser Würfel hat eine Kantenlänge von fünf bis sieben Zentimeter. An dem Würfel hängen etwa einen Meter lange und etwa 5 cm breite schwarze Plastikschnüre. Mit den Schnüren befestigt er das Kästchen am linken Arm, in der Mitte zwischen Ellenbogen und Schulter. Dabei drückt er den Arm gegen den Körper, in der Nähe des Herzens werde ich später lesen. Die Schnüre Werden um den Arm und irgendwie um die Finger gewickelt. Dann geht das Ritual weiter; halblaut lesen, ehrfurchtsvoll umblättern und den Oberkörper auf und ab bewegen.
Diese Art der Bewegung habe ich schon oft gesehen. In Krankenhäusern etwa, wenn Kinder nach langem Verbleib an Hospitalismus litten. Dann bewegten sie den Oberkörper auch in dieser Art, allerdings auch in die waagerechte, nicht nur von oben nach unten, sondern auch von rechts nach links. Auch bei Tieren Im Zoo habe ich das gesehen. Wenn Löwen nach Jahrelanger Gefangenschaft sich in einer Ecke zurückziehen und den Kopf stundenlang von rechts nach links wiegen. Vielleicht ist das im Grunde die gleiche Eirkungsweise. Der Versuch sich zu konzentrieren unter Zuhilfenahme von anderen Körperteilen. Die Musiker wippen auch schließlich mit dem Oberkörper, verzehren das Gesicht, schneiden Grimassen oder ähnliches. Eine einfache Konzentrationshilfe. Doch, was hat es mit diesem Kästchen auf sich? Sobald ich wieder Internetzugang habe, werde ich danach suchen. Unbedingt.
Nach ungefähr zehn Minuten, wird das Kästchen wieder abgebunden. Behutsam, langsam, ja zärtlich beinah werden die schnüre mit der rechten Hand zuerst von den Fingern und dann vom Arm abgewickelt.
Ich habe erwartet, dass er das Kästchen wieder weglegen wird, es wieder in die kostbare Ledertasche mit den goldenen Intarsien einpacken, um dann das zu tun, was die meisten Reisen im Zug machen: aus dem Fenster gucken und sich in Gedanken verlieren. Gebet beendet, Aufgabe erledigt, gut ist.
Aber weit gefehlt; das Kästchen wird jetzt mit den Schnüren an seinem Kopf befestigt. Nein, nicht oben auf auf dem Scheitel, sondern auf der Stirn. Die Befestigung auf der Stirn gestaltet sich auch für einen erfahrenen und geübten, Schwarzes-Kästchen-Befestiger nicht ganz einfach. Die Schnüre werden irgendwie nicht fest. Sie rutschen auf den kurz geschnittenen Haaren, mit den Langen Ohr-Zöpfen immer wieder weg. Nach einigen versuchen gibt es der jünger Mann auf. Mit der einer Hand hält er jetzt das Kästchen auf der Stirn und mit der anderen Hand blättern er in seine Blätter, bis er die richtige Stelle gefunden hat. Und weiter geht es. Murmeln, wackeln, mit der Hand das Kästchen an der Stirn pressen. Es scheint sich irgendwie vorgenommen zu haben, die gesamte Fahrt für sein Gebet auszunutzen. Warum auch nicht. Man muss die Göttlichkeit in sich aufnehmen, wo auch immer man Gelegenheit dazu erhält.
Meine westliche Geduld ist erschöpft. Meine Neugierde, die sich zuerst in Faszination und dann in Langeweile verwandelt hat, sucht neue Ziele im Zug.
Rechts von mir, auf der Treppe zur obersten Etage sitzt eine jugendliche Frau. Ich schätze das Alter auf Anfang bis Mitte zwanzig. Sie trägt Khaki-Hosen, einen groben Pullover in der gleichen Farbe und eine schwarze, runde Sonnenbrille. Ihre Gesichtshaut hat eine hell braune Tönung. etwas heller. Wie Kakao etwa. Kakao den man mit Milch gemischt und umgerührt hat. Viel Kakao mit wenig Milch. Ihr wisst schon was ich meine.
Passend zur Kleidung trägt die Frau Stiefel. Schwere Militärstiefel. Und in den Händen trägt die Frau eine Maschinenpistole. Eine von dieser Art mit zwei Läufen. Der eine Lauf für normale Kugeln und der andere Lauf für Granaten. Da die Frau höchstens drei Meter von mir entfernt sitzt kann ich das Magazin erkennen. Ein kleiner Fenster an der Seite erlaubt es den Ladestand der hell braunen, kupferfarbenen Kugeln zu überprüfen. Die Granaten, etwa 5 Zentimeter im Druckmesser trägt sie an einem Gürtel.
Und sie schaut mich an. Die schwarze Brille erlaubt mir nicht die Farbe ihrer Augen zu sehen, aber ich bin mir sicher beobachtet zu werden. Durchdringend. Es ist die Art von Beobachtung, die man von einem Lehrer während der Klassenarbeit erwartet. Nachdem man, wegen angebliches Abschreiben, gewarnt worden ist.
Ich weiß nicht, ob Soldatinen, die Im Zug von Jerusalem nach Tel Aviv reisen einen griechischen Touristen erschießen dürfen, weil er eine falsche Bewegung macht. Und die Art wie sie ihr Gewehr hält, gefällt mir überhaupt nicht. Zärtlich irgendwie. Sie streichelt es.
Die Ankunft des Zuges ist wie der Weckruf nach einer Trance aus einer anderen Welt.
Übrigens, wenn Sie aus Deutschland kommen, dann werden sie erkennen, dass der Zug in Deutschland gebaut worden ist. deutsche Züge erkennen Sie überall auf der Welt ganz einfach an den lebensgefährlichen Einstiegen. Zwischen Bahnsteig und Zug ist noch so viel Platz, dass ohne weiteres eine Horde Elefanten Platz hätte.